Im September 1980 gebar ich mein drittes Kind. Wir nannten sie Barbara. Nach zwei gesunden Söhnen freuten wir uns über unserer Tochter. Aber schon bald erfasste mich große Unruhe und eine Vorahnung, dass Barbara krank sei. Viele kleine Anzeichen deuteten darauf hin. Die Hakenfüßchen wurden mit Gipsstiefelchen behoben, wegen der Hüfte bekam sie „Züger´l“, sie litt an Durchfällen und war auch ihrer gesamten Entwicklung zurück.
Unruhig lief ich von Arzt zu Arzt, von Krankenhaus zu Krankenhaus. Barbara war ein Jahr alt, als die Diagnose Mukopolysaccharidose feststand. Es war die schwerste Form. Zuerst war ich sehr froh, dass man endlich erkannt hatte, woran Barbara leidet. Erst als ich die schrecklichen Folgen ermessen konnte und erfahren musste, dass es bis jetzt keine Möglichkeit einer Heilung oder Linderung gibt, war ich schockiert. Besonders große Angst hatte ich vor der geistigen Behinderung. Angst vor dem Ungewissen.
In dieser Zeit der Ungewissheit weinten wir beide sehr viel, Barbara hatte wahrscheinlich Schmerzen und ich litt an großer Traurigkeit. Ich werde mein Kind verlieren. Es ist so klein und lieb, warum muss gerade sie leiden, und warum haben wir nicht ein gesundes Kind? Warum lässt unser Herrgott das zu?
Barbara gab mir Zeit, mich langsam daran zu gewöhnen, dass sie nicht wie alle Kinder aussieht, und auch ihr geistige Behinderung zeigte sich erst langsam uns schrittweise. Sie gab mir Zeit, sie voll zu akzeptieren, wie sie ist und wie sie einmal sein wird. Ich versprach ihr, dass ich zu ihr stehen werde, komme, was wolle, uns sie lächelte nur. Wenn ich sie in den vielen Nächten, in denen sie weinte, herumtrug – in ihrer Lieblingsposition ganz an meinen Hals geschmiegt – klopfte sie mir oft leicht auf die Schulter.
Mit etwa zwei Jahren wurde festgestellt, dass sie zusätzlich zu ihrer Krankheit an Synostose leidet, einer vorzeitigen Verknöcherung der Schädelnähte. Viele Untersuchungen musste sie über sich ergehen lassen, um Anzeichen eines Hirndruckes nicht zu übersehen. Eines Tages fing sie an zu schreien.
Sie schrie, schrie und schrie, und keiner war da, der ihr helfen konnte, oder der ihr schmerzstillende Mittel gab. Drei Tage und drei Nächte schrie sie ohne Unterlass, schlug mit dem Kopf gegen die Wand, bis sie zusammensackt und wie leblos in meinen Armen lag. Große Besorgnis der Ärzte sie zu operieren! Bei solchen Kindern weiß man nie, sie könnten am Operationstisch sterben. Aber kann man sie so leiden lassen?
Und es ging ihr wieder besser. Nach der Operation, die sie gut überstanden hatte, konnte sie wieder laufen, lachen und essen. In der einen Hand die Mundharmonika, mit der sie oft während des Laufens spielte, und in der anderen Hand ihrer Lieblingspuppe. Wieder freuten wir uns. Sie konnte vormittags in den Kindergarten gehen, und alle Tanten liebten und umsorgten sie. Meistens saß sie auf Tante Gerdas Schoß.
Vier Jahre vergingen. Manchmal schwebte sie bei einer Grippe oder einer Lungenentzündung in Todesgefahr. Wir wurden immer mit dem Tod konfrontiert. Unsere Resi-Tante ist durch die Ereignisse ein enges Mitglied unserer Familie geworden. Auch sie gab Barbara ihre ganze Liebe. Und wie alle wurden von Barbara beschenkt.. Sie gab uns etwas Besonders: Sie füllet unsere Herzen mit Sonnenschein, machte uns sensibler und feinfühliger.
Im Nachhinein überlege ich mir oft: Wie konnte ein Kind mit größter körperlicher und geistiger Behinderung unser Leben verändern? Die Worte aus dem zweiten Korintherbrief an Paulus gewinnen Bedeutung:“ Lass Dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in der Schwachen mächtig.“
Im September 1986 war Barbara sechs Jahre. Die Krankheit hatte sie gezeichnet. Mit ihren Tatzenhändchen konnte sie kein Bilderbuch mehr umblättern, und sie hatte auch das Interesse dafür verloren. Sie lag in ihrem Buggy und wartete. Geduldig. Sie konnte nichts mehr sagen und nahm nur noch flüssige Nahrung zu sich. Manchmal weinte sie still vor sich hin, und wenn ich ihr Schmerztabletten gab, hörte sie auf zu weinen.
In der Nacht hatte ich sie neben meinem Bett in ihrem Wägelchen stehen, denn sitzend konnte sie besser atmen. Oft beobachtete ich sie besorgt. Wird sie den nächsten Atemzug machen? Die Abstände waren sehr groß. Wieder stand der Tod neben uns. Die Ärzte meinten, dass sie wieder an Hirndruck leide. Schweren Herzens willigten wir in eine Operation ein. Vielleicht kann sie mit dem „Shunt!“ wieder gehen, vielleicht lacht sie wieder wie früher!
Die schlimmste Zeit in meinem Leben ist jene gewesen, in der Barbara auf der Intensivstation lag. Plötzlich waren wir getrennt, und ich hatte das Gefühl, in einer Weise versagt zu haben und sie im Stich gelassen zu haben. Nackt und fiebrig lag sie, angeschlossen an schrecklich viele Schläuche und wurde künstlich beatmet. Manchmal ging es ihr besser und ich war gleich voller Hoffnung, manchmal war ich todtraurig.
Endlich eine freudige Botschaft: Sie ist von der künstlichen Beatmung los. Ich kann bei ihr sein, wenn ich Zeit und Lust habe, und bei nächster Gelegenheit würde ich sie nach Hause nehmen.
Barbara kämpft und gab nicht auf. Schon öfter hatte sie dem Tod ein Schnippchen geschlagen, doch am Palmsonntag 1987 nahm Gott sie zu sich.
Jeder Tag, an dem man einen geliebten Menschen verliert, ist zu früh. Als sie so gewaschen mit einem frischen Hemdchen friedlich vor mir lag, erlöste mich ihr entspanntes Gesichtlein von meinen Sorgen, uns ein großer Friede umgab auch mich. All die Ängste, alle die Sorgen, alles Schwere durften wir in ihr Grab legen. All das Schöne durften wir in Erinnerung behalten.