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Wir sind die Familie W. aus Cham, Schweiz. Fredi ist der Hahn im Korb, Zahnarzt von Beruf, Hobbypilot und ein lieber Vater und Ehemann. Christine – genannt Chrigi – Mutter, Hausfrau, Musikerin und seit einiger Zeit zwangsläufig Krankenschwester, Physiotherapeutin und Blitzableiter. Valerie, 8 Jahre alt, geht in die 4.Klasse, spielt Cello und braucht ihren Kopf gerne für allerlei knifflige Denkspiele. Sophie, 6 Jahre alt, geht bald in die 1. Klasse, malt gerne, singt und liebt Gesellschaft.

Sophie Elina, diese Namen haben wir für unsere Tochter gewählt. Sie bedeuten Weisheit und Strahlen, Glanz, Eigenschaften, die wir unserem Kind wünschten. Wie sehr sie diese in ihrem Leben brauchen würde, wussten wir natürlich damals noch nicht.

Am 29. März 1999 kam sie auf die Welt, einen Tag zu früh. Sie war ein Prachtbaby, 4360 g schwer, 51 cm lang und schlief von der ersten Nacht an durch. Allerdings lief sie beim Stillen immer so ein bisschen blau an, wollte nicht so recht zunehmen und auch nicht so wachsen. Ihr Vorsprung punkto Größe war bald dahin. Ein Kinderarzt wurde unruhig und meinte, dass irgendetwas mit dem Kind nicht stimmte. Blödsinn, dachten wir.

Sophie war 1 ½ Jahre alt, klein aber immer noch groß genug für die Statistik, als sie sich beim Herumtoben an der Halswirbelsäule verletzte. Ihre Haare hatten sich beim Purzelbaum verheddert. Dabei hat sie sich den Hals so verdreht, dass sie sich vor Schmerzen nicht mehr bewegen konnte. Die Kinderärztin schickte uns zur Chiropraktikerin, um die blockierten Wirbel wieder einzurenken. Frau Dr. Egli tastete ihre Wirbelsäule ab und sagte: „An diesem Rücken mache ich nichts!“

Für uns begann eine schreckliche Zeit. Die Ungewissheit und gleichzeitig das sichere Wissen, dass „es“ etwas Schlimmes sein musste hat uns stark zugesetzt. Dann kam die Diagnose MPS IV A. Wir hatten keine Ahnung, was das sein könnte, aber die Tatsache, dass wir die Krankheit nicht kannten sagte uns: unbekannt, unerforscht, unheilbar. Wir haben uns schlau gelesen, durchgefragt und vieles über Morquio erfahren. Auf diversen Internetseiten haben uns süße Kinder angelächelt, das hat uns Mut gemacht. Das schaffen wir, dachten wir.

Es folgten viele Untersuchungen im Kinderspital, tagelang waren wir unterwegs mit unserer immer strahlenden Sophie. Sie war und ist eine Musterpatientin, geduldig lächelnd hörte sie sich alles an, ließ sich anfassen und machte alles mit, was die Damen und Herren Doktoren da von ihr wollten. Voller Vertrauen schaute sie den Wirbelsäulenchirurgen an, der ihr die Halswirbelsäule stabilisieren sollte.

Sophie wurde am 28. 2. 2002 operiert. Die Operation verlief völlig problemlos, mein Mann – selbst Mediziner – durfte die ganze Zeit dabei sein. Sie kam auf die Überwachungsstation, ich durfte sie sehen, anfassen, soweit das möglich war, denn der Gips reichte ihr vom Kopf bis zum Bauch. Er war blau, das hatte sich Sophie gewünscht. Ich habe ihren Fuß gehalten und durfte ihn nicht mehr loslassen. Sie wurde sofort unruhig und hat den Fuß meiner Hand nachgeschoben. Sophie wollte nicht recht wach werden, wenn sie ansprechbar war, klagte sie über Schmerzen. Man hat ihr großzügig Medikamente dagegen gegeben. Nach ein paar Stunden durfte ich den Fuß loslassen. Sie war immer noch nicht wach. Ihr Körper schwoll an, vor allem Bauch und Beine. Sie hatte starke Schmerzen und wollte sich nicht mehr bewegen. 6 – 8 Stunden nach der Operation hat sie die Beine nicht mehr bewegt, bis heute nicht. Sophie ist vom 5. Brustwirbel an abwärts gelähmt.

Es folgten verzweifelte Versuche, die Neurologie zu erklären und zu verbessern. Nichts half. Eine Ursache für die Lähmung wurde nicht gefunden. Es muss eine Durchblutungsstörung gewesen sein, welchen Ursprungs weiß man nicht.

Sophies Zustand wurde immer schlechter, sie hatte sehr starke Schmerzen, war kaum ansprechbar. Der Gips drückte, man sah die offenen Stellen am Kopf bluten. Ihr Kreislauf entgleiste, sie hatte einen enorm hohen Blutdruck, den man medikamentös einzustellen versuchte. Sophie wollte sterben. Sie hat es nicht mit diesen Worten gesagt, ein dreijähriges Kind kann das nicht, aber mein Mann und ich haben sie verstanden.

Am 3. Tag nach der Operation musste eine Notoperation eingeleitet werden, an einem Sonntag! Mein Mann und ich waren uns einig, dass man alles versuchen sollte, eine Verbesserung der Situation herbei zu führen. Wieder war mein Mann dabei. Die Wirbelsäule von Sophie sollte im Brustwirbelbereich entlastet werden, damit eine Verbesserung der Neurologie eintreten könnte. Es war ein großes Risiko, da ihr Kreislauf nicht stabil war.

Sophie hat die Operation überstanden. Zwei Stunden später lag sie im Bett, aß ein Hörnchen und sagte zum Arzt: „Hello Fan!“, als er zu ihr kam. Er wollte sie küssen, aber sie meinte: „Nimm lieber Mami.“ Stattdessen haben wir alle geweint. Sie erholte sich gut und wurde in eine Kinderrehabilitationsklinik verlegt. Lange, viel zu lange waren wir dort. Wir, das heisst Mutter, Vater, Großmutter, Großvater, Schwester und viele Besucher. Therapien, Rollstuhl und Hilfsmittel mussten gesucht und angepasst werden. Kleinwuchs zusammen mit Paraplegie ist selten, da gibt es nichts ab der Stange zu kaufen.

Wir mussten unser Haus am See verlassen und zogen in eine rollstuhlgängige Wohnung in der Nähe. Der Verkauf des Hauses stellte uns nochmals auf die Probe, wollte uns doch jemand übers Ohr hauen und ein Bordell einrichten! Beim zweiten Versuch hat es aber geklappt. Seit anfangs 2005 wohnen wir in einer Eigentumswohnung, die auf die Bedürfnisse von Sophie abgestimmt ist. Eben, Kleinwuchs und Paraplegie ist halt wirklich speziell. Vieles muss noch verbessert werden, damit Sophie noch selbständiger wird.

Im August kommt sie in die Regelschule, sie freut sich riesig. Die Klassenkameraden kennt sie schon vom Kindergarten, die Schule ist in der Nähe und eine erfahrene Lehrerin wartet auf Sophie und 18 andere Kinder. Wenn wir nur wüssten, wie wir den Schulranzen am Rollstuhl befestigen, dass sie ihn auch selber hochheben kann und … ganz abgesehen davon welchen Schulranzen sollen wir kaufen, sie könnte sich glatt selber darin einpacken, so gross sind die Dinger. Wir werden sehen.

Valerie Lea, diese Namen haben wir unserer ersten Tochter gegeben. Gesund (kräftig, wertvoll) wie eine Löwin bedeuten die Namen. Gott sei Dank, sie ist es! Sie ist DIE große Schwester von Sophie und sie ist Valerie. Geschwister behinderter Kinder haben einen speziellen Stand. Deshalb möchte ich Valerie auch speziell erwähnen. Sie ist auch noch da! Ihre Familie muss sich sehr um Sophie kümmern, Valerie kommt oft zu kurz. Während Sophie in die Welt strahlt, hat Valerie einen stillen Glanz. Wie eine Perle, still und überlegt, perfekt und natürlich, ausdrucksstark und zurückhaltend vornehm. Wir sind stolz auf sie, wie sie den schweren Schicksalsschlag verkraftet hat. Sie versucht zu helfen, uns so wenig wie möglich zu belasten. Ihre alte Schwester ist nicht mehr da. Sie lief ins Krankenhaus und kam liegend wieder raus. Diese Sophie konnte nichts mehr, keine tollen Spiele mit herumrennen. Es hat ein Jahr gedauert, bis die zwei wieder etwas miteinander anfangen konnten. Heute spielen sie schön miteinander. Sie haben tolle Ideen…und sind glücklich.

Die ganze Familie kann wieder lachen, unser Alltag ist anstrengend, trotzdem haben wir Zeit für einander. Manchmal holt uns die Vergangenheit ein, die Traurigkeit kommt zurück, eine Wut und Hilflosigkeit. Morquio allein hätte doch gereicht, warum die Querschnittslähmung auch noch sein musste, können wir nicht verstehen.
Wir wünschen uns einen Schuldigen, ob Mensch oder Irgendetwas, auf den wir unsere Wut lenken könnten. Nur: niemand hat etwas falsch gemacht, „schuldig“ ist keiner. Das heißt, wir leben damit, so gut es geht. Wir suchen nach Ansprechpartnern, die uns weiter helfen können. So lernen wir viele liebe und interessante Leute kennen. Wir sind überzeugt, dass Sophie ein selbständiges Leben führen kann und wird. Die ganze Familie arbeitet daran und viele andere auch. Sophie hat die besten Voraussetzungen dafür, fröhlich und intelligent ist sie. Ein Sonnenschein, strahlend und klug, ganz ihren Namen entsprechend. Sie gewinnt Menschen für sich, und die Menschen gewinnen durch sie.

Bericht Oktober 2009

Unsere Erfahrungen mit Sophie

Die Einschulung stellte uns immer wieder vor neue Probleme. Dank der Kontakte zu anderen MPS-Familien und der Paraplegikervereinigung konnten wir vieles im Voraus, z.B. in der Gestaltung des Schulalltages planen und umsetzen. Allerdings gab es viele Hürden zu nehmen und nicht alles war vorhersehbar.

Eine Zusammenfassung des Vortrags von Christine Widmer Wiesbauer anlässlich
der MPS-Tagung, August 2009

Morquio

Sophie erhielt die Diagnose MPS IVA mit ca. 2 Jahren. Sie wurde vor ihrem 3.Geburtstag an der Halswirbelsäule operiert und erlitt dabei eine Querschnittlähmung. Es folgte eine mehrmonatige Rehabilitation in einer Kinderklinik. Sie musste wieder lernen zu sitzen und sich im Rollstuhl fortzubewegen. Wir Eltern mussten über die Hautpflege und über Darm- und Blasenmanagement Bescheid wissen. 

Kindergarten und Vorbilder

Sophie besuchte in der Reha den Kindergarten. Das Personal war geschult, die Räume optimal eingerichtet. Allerdings schaute Sophie den anderen zum Teil mehrfachbehinderten Kindern Unerwünschtes ab. Sie speichelte vermehrt und warf ihr Essen quer durch den Raum, wenn es ihr nicht passte. Uns war klar, sie brauchte andere Vorbilder. Sie sollte in den öffentlichen Kindergarten gehen und eines Tages ein selbstbestimmtes Leben führen.

Spielgruppe und Kindergarten im Dorf

In der Spielgruppe – auch Vorkindergarten genannt – konnte sie meistens mit den anderen Kindern mithalten. Sie war im Rollstuhl mit ihnen auf der gleichen Höhe und konnte mit ihren Händen und ihrer Kraft ähnlich viel. Drinnen wie draußen war sie mitten drin und voll dabei, hatte Freunde und ganz tolle Leiterinnen.

Im Kindergarten musste ein Tisch angepasst und erhöht werden, damit sie ihn im Rollstuhl anfahren konnte. Der Tisch war auf Rollen, sodass er überall zum Einsatz kam. Für die anderen Kinder organisierten wir einen Rollstuhl, in dem sie selbst Erfahrungen sammeln konnten. Wer den Rollstuhl benutzte, musste an den erhöhten Tisch. Somit hatte Sophie schnell Kontakt zu den anderen Kindern, fand neue Freunde und Helfer. Es war selbstverständlich, dass ihre Kameraden ihr beim Anziehen der Jacke oder beim Tür öffnen halfen. Die Kinder machten das gerne. Auf Klassenfahrten und bei anderen Anlässen war sie mit Hilfe von uns Eltern und den Kindergärtnerinnen immer dabei.

Die ersten Schuljahre

Einige Monate vor Schuleintritt beschlossen die Schulleitung, die Klassenlehrpersonen und wir Eltern, dass Sophie so weit wie möglich die Schulstunden besuchen sollte. Während des Turnunterrichts und der Schwimmstunden durfte Sophie allerdings ihre Therapiestunden (Physio und Ergo) abhalten. Im Zeichnen stand ihr eine Klassenassistenz zur Verfügung, die ihr beim Reichen des Materials usw. half. Die Klassenkameraden halfen ihr bei Gruppenarbeiten oder im Lift, allerdings ließ die Bereitschaft und Freude nach. Die Kinder wurden schneller und hatten andere Ideen, bei denen Sophie immer weniger dabei sein und mithalten konnte.

Sophie saß ganz vorne an einem Einzelpult. Das Schulmaterial wurde ihr von der Lehrerin ganz nebenbei bereitgelegt. Die Klasse reagierte zunehmend mit Eifersucht auf diese Hilfestellungen. Die schulischen Leistungen ließen auch zu wünschen übrig. Die Lehrerin vermutete eine Legasthenie, dann wieder eine Dyskalkulie oder eine Konzentrationsschwäche.

Sophie wurde von einer Psychologin untersucht. Bei dieser Abklärung kam heraus, dass Sophie eine normale Intelligenz hat, aber zu wenig Kraft einen normalen Schulalltag durchzuhalten. Wenn man ihr den Schulstoff so darreichen würde, dass sie ihn bewältigen könnte, wäre sie eine gute Schülerin. Wir wandten uns an die Stiftung Rodtegg, eine Schule für Körperbehinderte und baten um Hilfe.

Unterstützung in der 3. und 4. Klasse

Von der Stiftung Rodtegg kam eine Heilpädagogin für 6 Zeiteinheiten in die Klasse, um Sophie zu helfen. Diese Heilpädagogin war auch für weitere sechs Lektionen in der Klasse, um anderen Kindern mit Lernbehinderungen oder Hochbegabung Unterstützung zu bieten. In den Handarbeits- und Zeichenstunden war eine zweite Lehrperson Sophie zur Seite.

Wegen der schulischen Leistungen wurde Sophie erneut von einem Neuropsychologen abgeklärt. Wieder ergab die Untersuchung, dass sie normal intelligent ist. Jedoch zeichnete sich ein Defizit in der Wahrnehmung von Raum und Zeit ab. Handlungsplanung und Größenzusammenhänge waren für Sophie schwer zu erfassen. Der Grund war die mangelnde Erfahrung. Sophie erlitt die Querschnittlähmung zu dem Zeitpunkt, als sie diese Erfahrungen hätte machen sollen. Die Ergotherapie wurde intensiviert, die Therapeutin kam nun auch in die Schule. Sophie holte nach und nach ihr Defizit auf.

Sophies Hände wurden immer schwächer und die anderen Kinder immer schneller. Sie hatten mehr Ausdauer und eine längere Konzentrationszeit. Ein Laptop sollte Sophie das Schreiben erleichtern. Sie erhielt zwei Lektionen pro Woche Tastaturschreiben, damit sie dieses Arbeitsinstrument von Anfang an optimal nutzen lernte.

Sie durfte den E-Rolli auch im Klassenzimmer benutzen. Hörgeräte und ein Audiosystem wurden angeschafft, obwohl Sophie eigentlich noch gut hörte. Wir haben die Geräte beantragt, weil wir wussten, dass die Geräte eines Tages nötig sein würden. Das haben wir durch unsere Kontakte mit anderen MPS-Familien erfahren. Der Effekt war erstaunlich. Sie machte in der Sprachentwicklung rasante Fortschritte. Sie schrieb in Diktaten plötzlich gute Noten und ermüdete viel langsamer. Die Heilpädagogin schrieb für Sophie an den Prüfungen, damit sie diese in der gegebenen Zeit zu Ende bringen konnte. Mit diesen Maßnahmen war Sophie nun endlich die Schülerin, die sie sein konnte und wollte. Wir sind stolz auf sie und ihre Leistungen.

Reaktionen der Mitschüler

Sophies Freundeskreis wurde immer kleiner. Die Mitschüler reagierten mit Eifersucht auf die Hilfsmittel, vor allem den Laptop. Die Hörgeräte hielten sie für Schmuck und nahmen keine Rücksicht. In den Hilfestellungen der einzelnen Lehrpersonen sahen sie eine Arbeitserleichterung und eine Arbeitsbefreiung, welche sie selber auch gerne wollten. Mobbing kam auf. Schwächere oder „uncoole“ Kinder wurden systematisch ausgrenzt und schikaniert. Die Eltern der Mitschüler hatten Angst, ihre eigenen Kinder kämen zu kurz.

Hätte Sophie nicht ihre Schwester, ihre Freundin Tanja und ihre drei Jungs gehabt, hätte sie in eine Sonderschule gewechselt.

Aufklären, erklären, erfahren

Ich wandte mich an die Schulleitung. Es wurde eine Projektwoche rund um das Thema Behinderung und Gesundheit. organisiert. Im ganzen Schulhaus gab es Stationen, wo man Erfahrungen sammeln konnte, die mit sehen, tasten, bewegen und sich wohlfühlen zu tun hatten. In der Turnhalle gab es einen Rollstuhlparcours.

Die Reaktionen waren kontraproduktiv. Rollstuhl fahren fanden die Kinder „cool“. Wenn sie behindert wären, würden sie alles besser können als die Nicht-Behinderten. Der Respekt ging noch mehr verloren, Es wurde kein Verständnis aufgebaut.

Ich organisierte zusammen mit dem Klassenlehrer eine Turnstunde, in der ich den Mitschülern Sophies Behinderung erfahrbar machen wollte.

Schwache Hände:

Mit Fäustlingen schreiben, Reißverschlüsse und Knöpfe zumachen, schwere, sperrige Gegenstände heben, Schuhe anziehen und zubinden.

Reaktion: „Wann steht die Sophie auf? Sie braucht ja Stunden bis sie angezogen ist!“ „Schreiben tut weh und ist unmöglich.“

Rollstuhl:

Dinge transportieren, wenn man die Hände zum „Gehen“ braucht; rücksichtslos über Hindernisse mit verbundenen Augen gestoßen werden.

Reaktion: Die Kinder haben Angst und springen aus dem Rollstuhl. Seither fragen sie Sophie, ob sie gestoßen werden möchte und helfen ihr, Dinge zu tragen.

Hören:

In der lärmigen Turnhalle mit Ohrenstöpseln einfache Anweisungen ohne Blickkontakt befolgen.
Reaktion: „Du musst mich anschauen, sonst verstehe ich dich nicht.“.

Sitzen, Balance halten, fehlende Körperkontrolle:

Auf dem Physioball sitzend ohne Bodenkontakt eine Jacke anziehen.
Reaktion: geht ohne Hilfe nicht.

Bei einer anderen Gelegenheit bat ich einen wenig verständnisvollen Lehrer, auf einem Geländer balancierend die 17er-Reihe aufzusagen. Er musste erkennen, dass das Denken aufhört, wenn man mit dem eigenen Körper beschäftigt ist.

Hindernisse und Ausgrenzung:

Auf dem Rollbrett sitzend eine viel zu hohe Türe öffnen und hinaus rollen. „Romeo und Julia“ 2 Kinder im Rollstuhl müssen sich die Hand geben, Rest der Klasse stellt sich ihnen in den Weg.

Reaktion: Die Türe geht zwar auf, es dauert aber sehr lange. Beim Spiel kommt schnell Frust auf.

Mobbing gegen Sophie hörte nach dieser Stunde mehr oder weniger auf. Mehr Freunde hat sie allerdings dadurch nicht gewonnen. Das Klassenklima verbesserte sich kaum, andere Kinder werden Opfer. Für Sophie wurde der Schulalltag erträglicher. Die Eltern reagieren – wenn überhaupt – positiv. Sie erhielten einen Brief, in dem Sophies Krankheit und Behinderung erklärt wird. Es war den Eltern und den Mitschülern nicht bewusst, dass Sophies Zustand sich laufend verschlechtert und die Anpassungen in der Schule eine Folge davon sind. Sie baten uns, in Zukunft viel früher zu informieren und Änderungen den Mitschülern zu erklären. Wenn man keine Erklärung gibt, suchen sich die Mitmenschen selber eine. Diese ist dann nicht immer die beste.

Rollstuhl und Beweglichkeit

Nach der Operation und der Querschnittlähmung hatte Sophie einen sehr schweren Handrollstuhl, in dem sie aber gut sitzen konnte. Schon im Kindergarten bekam sie einen leichteren, wendigeren Handrollstuhl, der für die Betreuungspersonen gut zu schieben war. In der 2. Klasse hatte sie ihren Aktivrollstuhl, leicht und perfekt ausbalanciert, mit dem sie in Innenräumen schnell unterwegs war. Sie hat ihn heute noch und sie würde ihn nicht wieder hergeben. Sie schafft es, nur durch Gewichtsverlagerung ein Hindernis zu überfahren und eine Kurve hinzulegen. Für den Schulweg erhielt sie etwa zeitgleich einen E-Rolli, den sie seit der 4. Klasse auch im Schulzimmer benutzt. Das war die absolute Freiheitsmaschine. Dadurch ist sie draussen wie drinnen ebenso schnell wie andere Kinder und spielt, wo es geht, mit. Durch ihn ist sie weniger isoliert und bewegt sich selbstständig und selbstbestimmt.
Bei der Wahl des richtigen Rollstuhls waren uns die Familien der Paraplegikervereinigung eine große Hilfe.
Sophie bewegt sich dadurch natürlich auch weniger. Wir müssen zu Hause und in den Therapien für mehr Bewegung sorgen.

Handschrift und Computer

Sophie schreibt und malt ohne Zeitdruck sehr gerne. In der Freizeit übt sie diese Fertigkeiten mit ihren Freundinnen. Es wäre falsch, völlig darauf zu verzichten. In der Schule zählen jedoch Resultate. Der Zeitfaktor ist dort ebenfalls gegeben. Wenn sie mithalten soll, braucht sie Hilfe oder Hilfsmittel.

Zukunft

Sophie besucht nun die 5. Klasse, die 6. Klasse ist bewilligt, jedoch noch nicht geplant. Sie hat zusätzlich eine Klassenhilfe an ihrer Seite, die ihr mit dem Schulmaterial hilft oder für sie schreibt, wenn die Heilpädagogin nicht da ist. Wir nennen diese Perle von Frau „ihren gesunden Schatten“. Durch sie kann Sophie sich im wahrsten Sinne des Wortes in ihrem E-Rolli zurücklehnen, den Rücken entlasten, durchatmen und dem Schulstoff besser folgen.

Ihre Klassenkameraden werden älter, vernünftiger und verständnisvoller. Wir genießen die Verbesserungen und warten ab. Denn so wird es nicht bleiben. Anpassungen werden immer nötig sein. Wir beobachten und reagieren gegebenen-falls.

Der Besuch der Regelklasse war unser großer Wunsch und das richtige Ziel. Bis heute und jetzt. Diese integrative Schulform hat ihre Grenzen. Wenn Sophie es nicht mehr schafft, sie ihr – persönliches – Ziel nicht mehr erreicht, sie es nicht mehr aushält, darf sie sofort in eine Sonderschule wechseln. Wir unterstützen sie, egal wie sie sich entscheidet.

Für Sophie ist es schwer in einer „gesunden Welt“ zu leben. Sie und auch wir dürfen nicht vergessen, dass sie auch andere Vorbilder braucht. Sie muss ein Krankheitsbewusstsein entwickeln, sich einzuschätzen und einzuordnen ler-nen. Sie muss Hilfe annehmen und sich dabei wohl fühlen. Das braucht Größe. Aber wir wissen ja: Die Größe eines MPS-Kindes wird nicht in Zentimetern gemessen.