Nach einer aufregenden und sorgenvollen Schwangerschaft (Wehen in der 20. SSW und laut US-Untersuchung in der 30. SSW Verdacht auf Mikrozephalie = zu kleiner Kopf) wurde unser heiß ersehntes, erstes Kind am 27. Jänner 1989 geboren.
Sie gehörte als Termingeburt mit 2.700 g und 46 cm Länge nicht gerade zu den kräftigeren Babys, dafür schrie sie umso mehr. Es war ein heiseres Krächzen aus Leibeskräften und ich machte mir schon wieder Sorgen, ob das „normal“ sei. Aber Natalie hatte gute Apgar-Werte und wir hielten endlich ein augenscheinlich gesundes Baby in Händen.
Das böse Erwachen kam an nächsten Morgen. Man teilte mir mit, dass Natalie bei Anstrengungen wie Trinken oder Schreien blau wird. Man müsse sie vorsichtshalber nach Linz ins Kinderkrankenhaus bringen. Eine Welt brach für mich zusammen – man nahm mir mein kleines Töchterlein und ich durfte nicht mit! Natalie wurde im Inkubator von den Sanitätern in den Lift getragen uns als sich die Türe vor mir schloss, hatte ich eine furchtbare Ahnung.
In Linz wurde Natalie von Kopf bis Fuß untersucht. Eine Erklärung ihrer Zyanose-Anfälle hat man nicht gefunden. Der Verdacht auf eine Gehirn-Schwellung und auch ob sie vielleicht Fruchtwasser in die Lunge bekommen hätte, hat sich nicht bestätigt.
Dafür wurde ein noch unreifer Mageneingang festgestellt. Ihr Magen schloss sich nach Trinkaufnahme nur unvollständig und hatte zur Folge, dass sie ständig wieder etwas herausspuckte. Wir mussten sie wegen erhöhter Erstickungsgefahr drei Monate hochlagern.
Es fiel auch auf, dass Natalie sowohl am Gesäß als auch am ganzen Rücken verteilt einen sogenannten Mongolenfleck hat. Durch diese massiven blauen Flecken sieht es so aus, als würde Natalie ständig geschlagen. Außerdem fand man bei ihren beiden Handinnenflächen eine 4-Tinger-Furche. Es hätte dies ein Hinweis auf Mongolismus sein können. Wir mussten 8 lange Wochen auf das Ergebnis der Chromosomen-Untersuchung warten. Wir waren überglücklich als wir erfuhren, dass Natalie ein „normales“ Kind sei. Und wieder einmal glaubten wir, ein gesundes Kind in unsere Arme zu schließen.
Mit drei Monaten wurde bei ihr eine Hüftdysplasie festgestellt und für 8 Wochen eine Spreizhose verordnet. Natalie konnte bis dahin ihren Kopf in Bauchlage nicht heben und mein Mann befürchtete schon damals Schlimmes. Heute muss ich zugeben, dass auch mir ihr Entwicklungsrückstand auffallen hätte müssen. Aber es war unser erstes Kind und vor lauter Mutterglück verdrängte ich alle Schattenseiten: Es ging ihr im Mutterleib nicht gut (aufgrund meiner Schwangerschaft setzte ich in den ersten drei Monaten meine Dauermedikamente für Asthma ab, ein Fehler wie wir jetzt wissen, weil ich täglich bis zu 10 Anfälle hatte), sie hatte eine anstrengende Geburt (Saugglocke), war fast drei Wochen im Kinderkrankenhaus und überhaupt war sie so schwach und untergewichtig. Sie war ein schlechter Esser (ich konnte sie glücklicherweise fünf Monate voll stillen), außerdem beengte sie die Spreizhose. Das und noch mehr waren meine Ausreden wenn ich sie wegen ihres motorischen Entwicklungsrückstandes „verteidigen“ musste. Mit 9 Monaten konnte sie – wenn man ihr aufhalf – frei sitzen ohne dass ihr der Kopf gleich wieder zur Brust sackte.
Unser Kinderarzt vermutete wegen ihres Aussehens (buschige Augenbrauen, vergröberte Gesichtszüge) eine Stoffwechselstörung. Als Natalie ein Jahr alt war, wurde ihr Blut auf die gängigsten und vor allem behandelbaren Stoffwechselerkrankungen untersucht. Heraus kam nichts und wieder einmal hofften wir, ein gesundes Kind zu haben. Kurz darauf konnte sie mit Anhalten gehen und wir dachten an eine Normalisierung. Als sie jedoch mit 18 Monaten immer noch nicht frei stehen, geschweige denn laufen konnte, ließ mein Mann nicht mehr locker: Wir fuhren ins Kinderkrankenhaus Linz zur Abklärung. Dort wurde vom Oberarzt sofort der Verdacht auf MPS geäußert. Zu dieser Zeit war ich wieder schwanger – im 7. Monat.
Wir hatten nicht nur in Linz den Eindruck, dass entweder die Ärzte selbst über die Krankheit wenig wissen oder bewusst einiges verschweigen. Erst durch private Kontakte (befreundeter Arzt und diverse Medizinbücher) konnten wir uns selbst ein genaueres Bild machen. Und erst auf unsere gezielten Fragen wurden wir genauer informiert. Ein Kompliment an Graz: Prof. Ed. Paschke war äußerst ehrlich und gab uns eine Broschüre von MPS mit, obwohl erst der Verdacht und noch keine Diagnose bestand.
Am 18. Oktober 1990 dann die niederschmetternde Gewissheit: Natalie hat MPS Typ I Hurler. Fünf Tage später wurde Christoph geboren. Er ist gesund!
Natalie ist ansonsten ein sehr gesundes und robustes Kind. Außer zwei Mittelohrentzündungen (inzwischen hat sie im rechten Ohr eine Drainage und bekommt demnächst im linken auch eine) und einer Bronchitis hatte sie überhaupt noch keinerlei Erkrankungen. Sie ist nicht infektanfällig – das lässt uns auf einen eher leichteren Verlauf hoffen. Nur wenn sie Zähne bekommt, leidet sie sehr. Sie hat dann Fieber und augenscheinlich starke Schmerzen. Bis zu ihrem 13 LM hatte Natalie fast ständig Durchfall. Das hat sich plötzlich und ohne Behandlung völlig normalisiert. Ihre Verdauung arbeitet einwandfrei – auch wenn sie Schlagsahne und Butter löffelweise isst. Seit damals verträgt sie auch Kuhmilch.
Seit Oktober 1990 (21 Monate) kann sie auch alleine gehen. Von einem Tag auf den anderen ließ sie los und ging weg, als wäre es immer schon so gewesen. Nicht nur ein paar Schritte, sondern von einem Zimmer ins andere.
Seit sie ihren Bruder hat, ist sie wie ausgewechselt. Alles dreht sich um „ihr“ Baby. Mit Vorliebe bemuttert sie ihn. Da werden ihm Socken angezogen, der Mund abgewischt, eine Windel gebracht und vor allem wird er ständig liebkost. Christoph ist sehr geduldig und strahlt sie schon von weitem an. Sprechen kann sie noch nicht. Nur „Baby“, „Pap(a)“ und „ba ba“ (fortgehen) kann man eindeutig zuordnen. Aber sie kann sich durch ihre lebhafte Mimik sehr gut verständlich machen. Wir haben eine eigene Zeichensprache entwickelt.
Auch zeigt sie uns jetzt recht oft, dass sie uns sehr liebhat. Sie kommt her, streichelt uns und wenn wir sozusagen ihren Ansprüchen gerecht wurden, werden wir auch geküsst. Christoph bekommt immer und ohne Aufforderung Bussis, besonders wenn er weint.
Wenn man Natalie mit den Videofilmen von damals (Alter ein paar Monate) vergleicht, könnte man meinen, es handelt sich um ein anderes Kind. Sie ist zu einem wirklich lebensfrohen, teilweise vor Charme sprühenden Mädchen herangewachsen (auch wenn die Leute sie wegen ihrer Stehfrisur für einen Bub halten). Sie ist nur mehr selten grantig und kann von Herzen lachen. Auch ihre Motorik entwickelt sich den Umständen entsprechend. Momentan hat sie entdeckt, dass man auf Sessel klettern kann und dann an zerbrechliche Sachen herankommt. Natalie mag Kinder sehr und die Kinder mögen sie. Vielleicht bekommt sie eines Tages noch ein Geschwisterchen.
An den weiteren Verlauf ihrer Krankheit und das Ende wollen mein Mann und ich sowenig wie möglich denken. An manchen Tagen gelingt uns das ganz gut, an anderen nicht und wir weinen bis in die Nacht hinein. Dann haben wir nur einen Trost: Natalie gehört zu den glücklichsten Kindern dieser Welt und nimmt in unseren Herzen einen ganz besonderen Platz ein. Sie ist ein wunderbarer Mensch.
Seit diesem Bericht sind 10 Jahre vergangen. Christoph ist bald 11 Jahre alt und 1996 wurde unsere zweite Tochter Sarah gesund geboren. Kurz nach ihrem 5. Geburtstag hat Natalie im April 1994 ihre Flügel ausgebreitet und ist ins Licht geflogen.
Und obwohl wir sie nicht mehr sehen können, ist sie doch täglich bei und mit uns. Sie lässt uns den Sonnenaufgang mit ihren Augen sehen und die Blumen auf den Wiesen sind ein Gruß von ihrer Heimat. Im Rauschen des Windes können wir sie manchmal spüren und nachts tanzt sie mit den Sternen. Und manchmal erfreut sie uns ganz besonders: Wenn sich ein Regenbogen über unser Haus spannt, dann sehen wir fast, wie sie darauf spazieren geht und uns lachend zuwinkt.